Kalle Kosmonaut Ein Film, der das Elend zeigt, jedoch nichts zu dessen Erklärung beiträgt

Kultur

Der Film befasst sich mit einem Lebensabschnitt des Protagonisten Kalle, der unter sozial deprivierenden Verhältnissen aufgewachsen ist.

Hellersdorfer Corso in Berlin Marzahn.
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Hellersdorfer Corso in Berlin Marzahn. Foto: Walmaul (CC-BY-SA 3.0 unported - cropped)

14. Dezember 2023
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Korrektur
Auf der Berlinale 2023 hatte der Dokumentarfilm »Kalle Kosmonaut« Premiere; die GEW Hamburg zeigte ihn im Juni vor Studenten und Lehrern der Sonderpädagogik und die Bundeszentrale für Politische Bildung empfiehlt den Film in einer 18-seitigen Darbietung für den Schulunterricht.

Vorweg, dies ist keine geschmäcklerische Aufbereitung des Films, es soll hier vielmehr um die Intention der Regisseurin T. Kugler gehen. Sie benennt ihr Anliegen, dass die Zuschauer »ganz viele Fragen stellen, weil das verbinde viele Menschen« ( »Lola Talks« auf you-tube.com). Ganz besonders geht es ihr um die Gretchenfrage, »die sich durch den Film zieht: ›Was ist ein gutes Leben?‹«. Kalle antwortet übrigens auf die Frage lapidar, »ich habe keine Ahnung davon« (Film). Ergiebiger wäre dagegen die Frage, warum so vielen Menschen in dieser Gesellschaft ein »gutes Leben« vorenthalten wird?

Der Film

Bei dem Hauptdarsteller handelt es sich um Kalle, der auf der »falschen Seite der Berliner Gleise« (www.ecfa-web.org, 14.2.) aufgewachsen ist. Der Regisseurin geht es darum, Kalles Lebenswelt von 10 bis 20 Jahren mit der Kamera einzufangen. Es ist die Geschichte seiner Familie, Kalle bezeichnet sich selber als »Strassenjunge« (Film). Die Mutter ist in ständiger Sorge um ihn, sie ist alleinerziehend und muss den ganzen Tag arbeiten. Kalle ist nach der Schule und dem Besuch der Arche, eines kirchlichen Hilfsvereins, der für arme Kinder Mittagessen anbietet, oft auf sich allein gestellt und zieht wie in solchen Trabantenstädten üblich die besondere Beobachtung der Ordnungshüter auf sich. Denn, wo Armut herrscht, gibt es Alkohol- und Drogenmissbrauch schon unter Kindern, und Diebstahl und Gewalttätigkeiten gehören zum Alltag.

Als 10-Jähriger spricht er über das, was er aus seinen Erfahrungen zum Leben braucht, eben die Grundbedürfnisse wie Wohnung, Essen, Bekleidung und Spielsachen.

Kalle und seine Mutter aus dem Osten Berlins sind mit Folgen konfrontiert, die nach der Transformation der sozialistischen Wirtschaft ins System der Marktwirtschaft abrupt ungeahnte Härten herbeiführten - voller Unwägbarkeiten durch Niedriglöhne und Arbeitslosigkeit -, mitsamt dem Rattenschwanz an Einschränkungen und Behinderungen. Das eherne Gesetz des Lebens in einer kapitalistischen Wirtschaft heisst ja: Verfügung über Geld. Und wie der Volksmund weiss, ist »ohne Moos nichts los!«

Kalles Weltbild einige Jahre später: Er hat Erfahrungen mit den elendigen Verhältnissen gesammelt, in denen z.B. Männer ihre Frauen misshandeln. Er will kein »Ghettokind« (Film) sein, möchte nicht alkoholisiert und mit Drogen vollgepumpt bettelnd in der Öffentlichkeit herumsitzen. Er will eine Arbeit haben. Aber eine Arbeit zu wollen ist das eine, eine Arbeit zu kriegen etwas anderes, das hat er gar nicht in der Hand. Ob und zu welchen Konditionen man einen Arbeitsplatz erhält, das entscheidet der Chef oder die Personalabteilung. So wird Kalles Vorhaben abrupt zu Makulatur.

Mit 17 Jahren verletzt er einen Unbekannten schwer, wird verurteilt und muss für zweieinhalb Jahre in den Knast. Gewaltausübung ist eben nur der Staatsgewalt vorbehalten! Nach Abbüssen der Strafe sorgt er sich, wie es mit ihm weitergehen wird. Die Schuld will er nicht auf den Drogenkonsum schieben, vielmehr ist da eine »Gewalt in ihm, die [er] nicht kontrollieren kann« (Film).

Diese Aussage dürfte das Herz des Gefängnispsychologen höher schlagen lassen, geht doch der psychologische Sachverstand davon aus, dass Aggressionen zur menschlichen Grundausstattung gehören, die selbst ein Jugendlicher in prekärer Lage im Griff haben muss. Zudem haben sich bei ihm nach der Tat und dem Gefängnisaufenthalt einige Tausend Euro Schulden angesammelt, die zurückzuzahlen sind. Nach seinem Gefängnisaufenthalt lebt er einige Zeit auf der Strasse.

Im Folgenden soll umrissen werden, was zu einer Erklärung solcher abgehängten, vor Gewalt nicht zurückschreckenden Jugendlichen beiträgt.

Das Selbstbewusstsein

Alle Welt weiss es, ohne das nötige Quantum »Selbstbewusstsein« kann sich niemand die Bewältigung seines Lebens vorstellen. Auch in der Schule hat der junge Mensch schnell gelernt, dass zum erfolgreichen Lernen selbiges gefragt ist, um im nachschulischen Leben zu bestehen. Ob danach ein Einkommen herauskommt, das ein unbeschwertes Leben ermöglicht, ist keine offene Frage; das kann man etwa am Verdienst von Millionen im Niedriglohnsektor besichtigen, wo Verzicht ein fester Bestandteil des täglichen Lebens ist. Allerdings stellt sich mit den zunehmenden Enttäuschungen über die Resultate der Lernleistungskontrollen schnell Gleichgültigkeit gegenüber dem Lernen ein.

So pfeift eine erkleckliche Menge Jugendlicher auf Unterricht und Schulordnung und macht die Schule zum Ort ihrer »Selbstdarstellungskünste« - wie F. Huisken, der emeritierte Hochschullehrer aus Bremen, in seinen Büchern über »Jugendgewalt« (VSA, 1996) und »Über die Unregierbarkeit des Schulvolks« (VSA, 2007) ausgeführt hat. Deutsche und Schüler mit »Migrationshintergrund« verabschieden sich aus der Lernkonkurrenz, im Hauptschulabschluss sehen sie keine Perspektive. Wie sollten sie auch - wo sie frühzeitig zu Bürgergeldempfängern werden, wo ihre Eltern schon ›Hartz 4 Empfänger‹ waren und wo sie wegen Geldmangel und »fremder Kultur« in Ghettos gesteckt werden; wo der Wechsel von Arbeit in Arbeitslosigkeit ihrer Eltern dauerhaft ist und wo somit die Kinder für die Eltern zur Last werden.

Mal rein sachlich genommen, müsste es beim »Selbstbewusstsein« um nichts anderes als um Selbstreflexion, um das Nachdenken über die eigenen Wünsche und die Gründe für deren Scheitern gehen.

Bei den ausrastenden Jugendlichen radikalisiert sich jedoch das »Selbstbewusstsein« in anderer Weise. Nach dem Vorbild aus dem Leben der Erwachsenen erschöpft es sich in der »Konkurrenzmoral«, die jeder aus seinem Umfeld kennt, im Wunsch nach »Anerkennung« und im »Geltungsstreben«. So verwandeln Schüler die Schule in einen »Jahrmarkt ihrer Eitelkeiten«. In und ausserhalb der Schule zeigen diese »Früchtchen« nun, was sie von der Schule halten.

Als Schulverlierer demonstrieren sie die Überlegenheit ihres »Selbstwerts« mittels Körperkraft, Habitus und Sprüchen wie, »sich von niemanden etwas sagen zulassen«. Schulmobiliar wird demoliert und der Schaden per Handy weitergeleitet oder jemand wird verprügelt und übelst zugerichtet, bis er sich nicht mehr rührt. Anlässe für das Losschlagen und Verletzen sind dann, jemand hätte einen »blöd angeguckt« oder demjenigen passe »dessen Nase« nicht.

Kritik an den Filmkritiken

Kalles Rolle im Film zeigt nicht das Handeln eines »reflektierte[n]… Denkers« (ecfaweb.org v. 14.02.), der darauf hätte kommen können, dass notorischer Geldmangel ihn von der Bedürfnisbefriedigung ausschliesst. Ein »Held« (www.deutschlandfunkkultur.de v. 25.1.) soll er sein. Jemanden zum Helden zu erklären, kostet ja nichts. Dabei werden die doch in Kriegen ›gemacht‹, wie jetzt aus dem Ukrainekrieg bekannt, wo die Toten auf beiden Seiten zu Helden erklärt werden, die ihren militärischen Auftrag bedingungslos - auch mit ihrem Leben - zu bezahlen haben.

Kalle soll »seine Frustration mit der Welt« erklären können, doch von der Frage, warum sich die Gesellschaft in wenige Reiche und so viele Arme scheidet, ist in den Besprechungen nichts zu vernehmen. Wenn die linke Zeitung »Neues Deutschland« vom »Potential« schreibt, dass eben Kalle »etwas aus sich machen« könnte (www.nd-aktuell.de v.25.1.), so erinnert das an die moralischen Appelle von Lehrern, jedoch nicht an die objektive Klassenlage von Arbeiterkindern.

Die einschlägigen Studien belegen seit PISA hinreichend, dass «der Lernerfolg eines Kindes weiterhin von der sozialen Herkunft der Eltern« (www.spiegel.de 24.6.13) abhängig ist. Die Kennzeichnung als »Rebell« ist lächerlich, laut Wiktionary ist das jemand, der sich gegen die »bestehenden (gesellschaftlichen) Zustände« auflehnt. Schlussendlich wird ausgesprochen, was der Film will: Er »urteilt nicht, er liefert keine Erklärungen« (www.rbb-online.de 25.1.23).

Das ist genau sein Mangel. Menschen in bedrückenden Lebensumständen zu zeigen, hat wenig mit Aufklärung zu tun. B. Brecht kritisierte 1931 während seiner Arbeiten zur Dreigroschenoper, dass »weniger denn je eine einfache ›Wiedergabe der Realität‹ etwas über die Realität aussagt«; er sprach von einem Fehler, »in filmischen Darstellungen des Elends zu schwelgen, weil dadurch der Prozess der Verallgemeinerung, des politischen Lernens behindert werde« (Wikipedia - Kuhle Wampe). Wie es anders geht, ist seinem Film »Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?« zu entnehmen.

Von einer »warmherzige Geschichte über [seine] Familie« (www.swr.de v. 25.5.) wird schwadroniert. Und so stellt die »European Children's Film Association« fest, »dass die Bande der familiären Liebe in der Schattenseite der Gesellschaft genauso stark sind wie überall sonst im menschlichen Spektrum« (www.ecfaweb.org v. 14.02.). So hätten sie es gern, die Damen und Herren von der Filmkritik! Allerdings sind die familiären Liebesbande oft sehr fragil. Auch der Politik ist das bekannt, wenn die türkis-blaue Koalition in Österreich in ihr Regierungsprogramm 2020 hineinschreibt: »Familien geben Halt, bieten Schutz und Zuversicht und helfen einander in schwierigen Lebenslagen«.

Abschliessend wird die Familie auf den Prüfstand gestellt, jedoch nicht in der bekannten Weise der Schönfärberei, wie es im Grundgesetz (Art. 6) steht, wo der Familie der »besonderen Schutz der staatlichen Ordnung« zugesprochen wird. Frau und Mann bekommen einen Auftrag erteilt, »Pflege und Erziehung der Kinder (ist die) zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.« Was heisst das? Und was kommt dabei heraus?

Die Familie - ein Ort des Glücks …

In dieser kirchlich und staatlich geförderten »Keimzelle der Gesellschaft« innerhalb des Gemeinwesens sind knallharte Widersprüche, die dann sozialstaatlich verwaltet werden, bekanntlich angelegt. Für die Mehrzahl der Menschen besteht das Leben aus »schlechten Zeiten« und das christliche Gelöbnis ›bis das der Tod euch scheidet‹ wird zur hohlen Phrase. Frau und Mann - mittlerweile auch in anderen Zusammensetzungen - heiraten, wozu sie keiner zwingt; sie entscheiden sich ganz frei, weil sie sich mögen. Aber die Idealismen blamieren sich an den Verhältnissen. So ist es nicht ungewöhnlich, wenn die Liebe im Getriebe der bürgerlichen Gesellschaft verblasst, die zunehmenden Streitereien münden dann in üble Gewalttätigkeiten – überwiegend der Männer, was etliche Frauen dann auch mit ihrem Leben bezalen müssen.

Auch die Zahlen, die die staatlichen Stellen regelmässig veröffentlichen, sprechen nicht für »Halt« und »Schutz« der Familie. »Jede Stunde werden mehr als 14 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt. Beinahe jeden Tag versucht ein Partner oder Expartner eine Frau zu töten« (Familienministerin L. Paus auf www.bundesregierung.de 11.7.). Mehrheitlich sind Männer die Verursacher von Gewalttaten. An den tagtäglichen Versuchen, Frauen zu töten, sterben jährlich mehr als 100 »durch die Hand ihrer Partner oder Ex-Partner« (www.ndr.de 20.8.23). Es ist allerdings von einer »erheblich grösseren Dunkelziffer« auszugehen, heisst es.

… oder ein Ort der gemeinsamen Bewältigung der Notwendigkeiten der Reproduktion? Der Staat und das heutige ›Sittengesetz‹ erlassen fürs Zusammensein von Frauen und Männern keine Vorschriften. Ganz freiwillig und ohne Zwang nehmen sie allerdings die bekannten Rollen der Geschlechter ein. Die gegenwärtig bestehende Grundlage dafür sind Familie und Ehe, beide werden staatlich gefordert und gefördert. Warum gehen Frau und Mann diese Verhältnisse ein?

Diese Form des Zusammenlebens basiert auf Folgendem:

Der gesamte Lebensrhythmus ist für das Gros der Gesellschaft durch die tagtägliche Arbeit gegen Geld vorgegeben. Nach diesem anstrengendem Tagwerk geht es erst einmal nicht um Erholung, denn es steht eine Anzahl von Notwendigkeiten des so genannten »Alltags« an, die allesamt zeitintensiv sind vom Einkauf bis zum Kochen, dann Aufräumarbeiten, Körperpflege etc. Gibt es Nachwuchs, nehmen die dann zu bewerkstelligen Aufgaben noch erheblich zu.

Das im Verhältnis zum 8-h-Arbeitstag plus Fahrtzeiten sehr begrenzte Zeitbudget für die im Anschluss anstehende Privatsphäre findet unter Bedingungen statt, die sich zudem durch wenig Kraft und Geld auszeichnen. Die eigentlich eher entspannte Seite des Lebens ist ganz dem Arbeitsleben unterworfen.

Von wegen also, wer einander liebt, braucht keine Paragrafen. Der Staat ist bei diesem Vorhaben gleich auf der Matte und verpflichtet ›seine‹ Bürger mit einem »Familienrecht«, mit »Sorge-« und »Unterhaltspflichten« zu »Beistand«, darin sind seine Ansprüche und Regularien an Verheiratete und Nicht-Verheiratete festgeschrieben.

Vater Staat »privatisiert« die Familienarbeit

Er macht zwar ein gesellschaftliches Interesse an der Produktion und Sozialisation des staatsbürgerlichen Nachwuchses geltend und bilanziert regelmässig die Geburtenraten, um in Kampagnen und mit materiellen Anreizen zu mehr Kinderkriegen aufzurufen. Die Kosten für die Tätigkeiten in der Familie und den anstrengenden Arbeitsaufwand hat er aber privatisiert. Der Staat macht die Betreuung und Versorgung von Kindern zur Privatarbeit und den Unterhalt des Partners zur Privatangelegenheit. So sieht der Inhalt des staatlichen »Schutzes« aus. Das Grossziehen der Kinder wird überwiegend von Frauen geleistet und ist mehr als ein Fulltimejob. Denn der Mann verdient fast durchgängig mehr als die Frau, die durch Karenzzeiten vor und nach der Geburt und anschliessende Kinderbetreuung zum Familieneinkommen mit Teilzeitarbeit in den meisten Fällen viel weniger beitragen kann. Was sich wiederum negativ auf ihre Rentenansprüche auswirkt. Diese Belastungen sind nicht auf die Natur »der Frau« zurückzuführen, einzig die gesetzgebende Instanz ist dafür verantwortlich.

Wo alles Geld kostet, sind die staatlichen Zuschüsse in Gestalt von Kindergeld und Familienzuschlägen mehr Almosen als Unterstützung. Notwendig wäre die Abkehr vom kompensatorischen Ideal des »erfüllten Liebesglückes«; diesem Traum, mit Mann/Frau, Kind und »trautem Heim« rundweg glücklich zu werden, ist auf eine falsche Einschätzung der daraus erwachsenden Verpflichtungen zurückzuführen. An dem Idyll von der intakten Familie liegt aber der politischen Macht eine Menge, wenn sie die Liebe zweier Menschen staatlich organisiert und damit für die Instrumentalisierung der Familie sorgt, mit der dann selbstverständlich geltenden Bewältigung des beträchtlichen Aufgabenkatalogs, die bei den Beteiligten zunehmend für Unzufriedenheit sorgt. Sich in dieser Realität des »häusliche Glücks« einzunisten, ohne Kritik oder gar eine Absage an den erbarmungslosen »Alltag« des Kapitalismus, ist fahrlässig. Wäre doch mal was, wenn sich Frauen und Männer massenhaft vor den Rathäusern versammelten und für ihren Dienst des Kinderkriegens samt jahrzehntelanger Versorgung angemessene Mittel einforderten!

Werden die Widrigkeiten des Lebens als identisch mit der Bewältigung des »Alltags« bestimmt, dann kommen Arbeitsbedingungen heraus, denen sich diejenigen ein Leben lang zu beugen haben, weil sie nicht über den Reichtum verfügen (Fabrik, Grundstück, Aktien oder Geld), der durch ihre Arbeit zustande kommt. Das Resultat ist, dass dieser Umgang mit der Arbeit am Ende des Tagwerks keine entspannte Lage für Leute hervorbringt, die sich auf das »Privatleben« freuen, vielmehr ausgelaugte, gestresste Menschen, die zum ›Feierabend‹ gar nicht mehr richtig entspannen können. Es zeugt von ziemlicher Ignoranz gegenüber den Widrigkeiten der ach so sozialen Marktwirtschaft, wenn der Schluss darin besteht, sich ein ›Nest zu bauen‹ und sich darin einzurichten. Irgendwann stellen die Liebesleute dann fest, dass wegen Geldmangels vieles an Wünschen auf der Strecke bleibt, und so beginnt das Liebesglück zu bröckeln. Von einer Kritik oder gar Absage an die alltäglichen Anforderungen einer Arbeitswelt ist allerdings wenig zu vernehmen.

Zum Schluss landet das Paar vor dem Scheidungsgericht. Nicht nur in den unteren Einkommensschichten kommt es zu einem erbitterten Kampf ums Geld, beim Streit um die Kinder geht es um Unterhalt und Sorgerecht.

»Was ist ein gutes Leben?«

Ja, wenn »viele Fragen« gestellt werden sollen, wie die Regisseurin des ›Kalle‹-Films hofft, kommt es doch drauf an, welche und zu welchem Zweck sie gestellt werden. Wenn sich dann »viele Menschen verbinden« sollen, bleibt die Frage offen, wie und wozu? Aber darum geht es, wie dargelegt, in einem solchen Dokumentarfilm nicht. Die Frage nach den Interessen wird nicht gestellt, es geht ja nur um Fakten. Die grösste Abstraktion ›Mensch‹ kommt zum Einsatz. Darin sind alle Unterschiede und Gegensätze aufgehoben, die in dieser Produktionsweise systematisch den Reichtum der Eigentümer erhöhen und damit die arbeitende Menschheit verarmen. Missfallen kundtun und auf das »gute Leben« hoffen - das ist doch sehr weit entfernt von einer Kritik an den Verhältnissen!

Frank Bernhardt

Kalle Kosmonaut

Deutschland

2022

-

99 min.

Regie: Tine Kugler, Günther Kurth

Drehbuch: Tine Kugler, Günther Kurth

Musik: Philip Bradatsch

Kamera: Günther Kurth

Schnitt: Tine Kugler, Günther Kurth